Grundfragen der Christologie
Hermann Deuser
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RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHLK Nr. 9731 ;Alle Rechte vorbehalten
Jesus Christus
Das Dogma mußte erst erschüttert werden, ehe man den historischen Jesus wieder suchen, ehe man überhaupt den Gedanken seiner Existenz fassen konnte. Daß er etwas anderes ist als der Jesus-Christus der Zweinaturenlehre, scheint uns heute etwas Selbstverständliches.
Albert
Schweitzer1
A. Schweitzer (1984), S. 47.Teil II • Schöpfung und Passion
1. Denkmodelle der Christologie
»Christologie« - dieser Terminus der theologischen Dogmatik bezeichnet eine der ältesten Wissenschaftssparten überhaupt: Seit zweitausend Jahren datieren Theorie- und Praxismodelle, die mit den Mitteln der religiösen Sprache, kirchlicher Bekenntnisse und nicht zuletzt mit Hilfe begrifflichen Denkens zum Ausdruck bringen, was in Kreuz und Tod Jesu, an Ostern und Pfingsten, schließlich auf sein Leben zurückschauend: in seiner Geburt, in Taufe, Verkündigung und Passion Jesu sichtbar geworden war. Was wurde sichtbar? - Mit einem Satz gesagt: »Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn« (Mk 15,39b). Die Bedeutung dieses Satzes hegt dann, daß von nun an keine andere Gottesrepräsentation, Kultform, Frömmigkeits- und Lebenspraxis mehr begründbar und zu befolgen war, wenn sie sich nicht auf diesen Jesus, der von da an der Christus hieß, zurückbeziehen bzw. in ihm vergegenwärtigen ließ. Was er in seinem Leben sprach und tat, wurde ebenso vorbildlich wie das, was mit seinem Lebensende erwartet wurde: Daß dieses Ende ein Anfang sei, ein prinzipieller Neuanfang im Sinne einer Neuschöpfung. Denn der Tod des Gottessohnes, des Messias, war ein Widerspruch in sich selbst und mußte bedeuten, daß dieser Tod - wurde er an Karfreitag, menschlich gesehen, ernstgenommen - dann von Gott her als Verwandlung des Todes selbst gesehen werden mußte. Auferstehung, Auferweckung, Himmelfahrt, »Sitzen zur Rechten Gottes« sind bis heute unsere religiösen Bilder und theologischen Symbole, um diese Wende und Aufnahme des menschlichen Todes ins göttliche Leben zum Ausdruck zu bringen: Gott ist so, wie wir es in Jesus gesehen, gehört und erfahren haben. Sein Tod setzt diesem Kommen und dieser Nähe des Reiches Gottes in der Liebe zu den Menschen gerade kein Ende, sondern umgekehrt: Die Todeswelt ist in Gottes Nähe aufgenommen. Darin besteht der christliche Osterglaube.
Im Zusammenhang der Trinitätslehre (s. § 4) war bereits - und notwendigerweise - von dieser Relation Gott/Jesus als Vater/Sohn die Rede, und aus ihr stammt die (religiöse, kirchliche, wissenschaftliche) Frage der Christologie: Wofür steht denn die übertragene Rede, Jesus sei Sohn Gottes?
Eine erste Denkalternative, die sich von Beginn an belegen läßt und die wir bis heute mit einem Schulgegensatz aus dem 4. Jahrhundert bezeichnen, ist die zwischen alexandrinischer und antiochenischer Theologie, benannt nach den beiden Zentren frühchristlicher Wissenschaft im nordafrikanischen Alexandria und im syrischen Antiochia.2 Man kann auch sagen, es handele sich um die Alternative einer Christologie »von oben« (alexandrinisch) und »von unten« (an-tiochenisch). Beginnt christologisches Denken beim Logos (Wort) Gottes (Joh 1,1) als der zweiten Person der Trinität, dann ist der Zusammenhang des Sohnes mit Gott bereits vorausgesetzt. Schwierig zu bestimmen bleibt dann, wie die menschliche Natur (natura humana) Jesu, also die Tatsache seiner menschlichen Geburt, seines Leidens und Sterbens aufgefaßt werden kann: War er überhaupt ein richtiger Mensch und nicht vielmehr wie ein Gott auf Erden? - Umgekehrt, beginnt christologisches Denken beim historischen Menschen Jesus von Nazareth, so sind die Lebensdaten dem Neuen Testament nach mehr oder weniger eindeutig, und alles geht seinen (biographischen3) Gang bis zu Pontius Pilatus. Spätestens hier aber stellt sich die alles entscheidende Frage, was denn im einzelnen oder wie überhaupt die göttliche Natur (natura Divina) Jesu, also seine mehr als historische Bedeutung für Glauben, Leben und Trost der Gläubigen aufgefaßt werden können: Seit wann war er denn Gottes Sohn, seit der Geburt (Mtl,18ff.; Rom l,3 f.), der Taufe (Mkl,9ff.), der Verklärung (Mk 9,2 ff.), der Leidensankündigung (Mk9,31) oder der Auferweckung (Mt 28,18 ff.)?
Beide
Seiten dieser Alternative sind bis heute aktuell, und sie sind durch die
modernen Bibelwissenschaften erst recht von Bedeutung, denn diese müssen sich
methodisch an der Historizität, d. h. dem Gewordensein ihrer Texte, und damit auch am »historischen
Jesus« orientieren. Wieso dieser aber an Gottes Stelle oder Gottes Sohn sein soll, kann
sich aus der
historischen Forschung und ihren Befunden als solchen gar nicht ergeben. Denn die Inkarnation des
Logos (die
Fleischwerdung, Verkörperung des Wortes, vgl. Joh. 1,14)
2 Vgl. W. Pannenberg, Grundzüge der Christologie (1990), §1.11; W. Härlc (1995), S. 307 (Anm.2); s. §4.3 in diesem Band.
3 Zur
historisch-kritisch
»geläuterten« Biographie vgl.
J. Becker (1996), Kap. 2.
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als Kernaussage der Christologie4 steht sozusagen zwischen einer einseitigen Christologie »von unten« oder »von oben« und ist konsequent auch das eigentliche Problemstück: Jesus als Christus und also als Gottes Sohn zu glauben, anzuerkennen, zu verstehen -und in seiner »Nachfolge« zu leben.
Diese methodische Alternative wiederholt sich nun in gewissem Sinne in den einzelnen Denkmodellen, wie sie dann von der christologischen Tradition im Mittelalter, in der Reformation und bis in die Neuzeit ausgebildet werden. Da ist zuerst das duale Modell der Zweinaturenlehre, daß der Gott-Mensch zugleich und in einer Person vere homo und vere Deus sei, klassisch ausgedrückt in der Kompromißformel von Chalcedon, dem vierten ökumenischen Konzil (451):
»[. . .] einen und denselben Christus, Sohn, Eingeborenen, in zwei Naturen unvermischt, unverwandelt, ungetrennt und ungesondert erkannt [. . .], wobei keineswegs die Verschiedenheit der Naturen um der Einigung willen aufgehoben wird, sondern die Eigentümlichkeit [. . .] einer jeden Natur erhalten bleibt und sich zu einer Person [. . .] verbindet [. . .] nicht als in zwei Personen gespalten und getrennt, sondern als einen und denselben Sohn [.. .].«5
Hier wird versucht, ein Dilemma wenigstens in definitorischen Bahnen zu halten, nämlich festzulegen, was nicht sein darf: Jesus Christus ist weder ein auf Erden getarnt erscheinender Gott, denn der wäre »vermischt« und »verwandelt«, der Mensch wäre nicht mehr richtig Mensch, es gäbe eigentlich nur noch eine Natur (Monophysitismus); noch ist
4 Vgl.
R.C.Neville(1991a), S. 141 f.
5 Text nach KTGQ l, S.
221; zur kritischen Aufnahme der Begrifflichkeit vgl.
W.Härle(199£),
Kap. 9.4.1.
Jesus bloßer Mensch - und Gott ihm gegenüber ein ganz anderer, denn dann wären die zwei Naturen »getrennt« und »gesondert«; der Zusammenhang von Gott und Sohn wäre immer nur behauptet, nicht wirklich (Dyophysitismus). Was sich daran entscheidet und für die Frömmigkeit des 5. Jahrhunderts jedenfalls ernsthaft ein Entscheidungsproblem war, zeigt die Frage, ob Maria als »Gottesgebärerin« (so Cyrill, der Patriarch von Alexandrien) oder bewußt eingeschränkt nur als »Christusgebärerin« (so Nestorius, antiochenischer Mönch und Patriarch von Konstantinopel) bezeichnet werden dürfe.6 Kann Gott, der für unser Denken, Fühlen und Glauben Allerhöchste, wirklich so weit erniedrigt vorgestellt werden, daß er menschlich geboren wird, leidet und stirbt? - Wenn das nach dem Neuen Testament gesagt werden muß, gilt es dann nicht allein für Jesus als Mensch? Wie ist dann aber in ihm, seinem menschlichen Geborenwerden, Leiden und Sterben, das Göttliche vorzustellen?
Aus dem Dilemma dieser Dualität scheint kaum ein Entkommen möglich. Beide Seiten sind, für sich genommen, in ihrem Anliegen zwar deutlich, problematisch bleibt aber ihre Verbindung in der erforderlichen Einheit der Person. Zudem lesen wir heute diese »naturhaften« Zuschreibungen in einer notwendigen Distanz, weil die Begrifflichkeiten von natura und persona zwar als technische Terminologie in dieser Sache zur Kenntnis genommen werden können, als »abstrakte«7 Eigenschaftszuweisungen des Göttlichen und Menschlichen aber untauglich erscheinen müssen. Die menschlich-göttliche Nähe zum Ausdruck zu bringen ist die Aufgabe der Christologie. Was in Jesus Christus sich zeigt, was er als Gottesherrschaft m seiner Person repräsen-
6 Zum sogenannten
ncstorianischen Streit v;^l. HDThG l, Kap. IV, '
7. Vgl. W.Härle(1995), S.344.
tiert: »die heilsame Nähe zwischen dem verlorenen Menschen und Gott herzustellen«8 - das umschließt zugleich das Menschliche und Göttliche. Es liegt also (im Unterschied zum Modell der Zweinaturen-Christologie vom frühen Mittelalter bis zur Neuzeit) gar kein primäres Interesse mehr vor, ein Lebewesen substanzhaft zugleich einer Doppel- wie einer Einheitsbestimmung zu unterziehen. Die theologisch zu interpretierende Gottesnähe, wie Jesus sie gelebt und versprochen hat, ist der Kern der Christologie.'
Von der Konstruktion der Zweinaturenlehre rückt die Christologie schon dann ab, wenn sie sich biblisch an den Ereignissen orientiert, die von Jesus Christus berichtet werden: Die Stände- oder Statuslehre - bezüglich der Erniedrigung (status exinanitionis) und Erhöhung (status exaltationis) Jesu'° - hebt die Raum- und Zeitdimensionen der Christus-Aussagen hervor: sein Leiden und Sterben (Passion) als Weg nach unten, sein Auferstehen (Ostern) als Weg nach oben. Der Christushymnus in Phil 2,5-11 enthält beides: die Erniedrigung, wenn es heißt: »er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave [. . .] bis zum Tod am Kreuz« (V. 7 f.); die Erhöhung, wenn es heißt: »Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen [. . .]« (V. 9).
In dieser Form der Inkarnationsvorstellung ist der Gotteszusammenhang ebenso vorausgesetzt wie die konsequente Menschlichkeit. Daß beides zusammen gilt, daß das Göttliche einen exemplarischen menschlichen Weg geht und das Menschliche damit als zu Gott gehörig ausgewiesen wird - darin entscheidet sich allerdings unser Ver-
8 J.Becker (l996), S.274.
9
R. C. Ncville (1991a), S. 128:
»There is good reason indccd for calling Jesus
both human and divine, but not necessarily becausc of
his >kinds<- Rather,
a thing can be known by what it does. This is
espccially true of an his-
torical being such äs a person. Christology should be >functional<, not
>sortal<.«
10Vgl. W. Panncnbcrg
(s. Anm. 2), S. 153 ff.; K. Barth, KD IV/1, § 45, S. 145 ff.
ständnis von Jesus Christus. Handelt es sich allein um einen bedeutenden Menschen, dann ist keine qualitative Differenz zwischen Sokrates, Jesus, Buddha und Mohammed — um nur an den berühmten Tod des Philosophen und die drei sogenannten Religionsstifter zu erinnern - mehr erkennbar. Wird dagegen unter der »Erhöhung« die Messianität", die Gottessohnschaft, die Gottheit Jesu Christi verstanden und an seine Person gebunden, dann liegt die qualitative Differenz zwischen Jesus und allen anderen Menschen in dieser auf ihn vertrauend wahrgenommenen, in ihm und seiner Geschichte erkannten und mit ihm gelebten Gottesbeziehung.
Vor allem die Christologie der Reformatoren12 hat in der Aufnahme biblischer Vorstellungen diese einmalige Bedeutung Jesu Christi in der Dreiämterlehre (munus triplex) zusammengefaßt. Danach wurde das Amt (munus, officium) Jesu als das des Propheten, Königs und Priesters erläutert; Würde- und Funktionsbezeichnungen, die zugleich mit alttestamentlichen Traditionen fest verbunden waren. Die religiöse Wirkung des Christusglaubens ließ sich auf diese Weise präzisieren und in bestimmter Hinsicht unterscheiden: Jesus ist für uns wie einer der Propheten und erfüllt deren Erwartungen in seiner Rede vom Himmelreich; er ist wie der rettende König der Endzeit, nämlich der Messias; er ist wie ein Priester im Blick auf das Opfer seines Lebens im Eintreten für uns vor Gott.
Solche Deutungstraditionen liegen teils vor, teils lassen sie sich herstellen. Doch ebenso klar ist, daß Jesus in einem heute bestimmbaren historischen Sinn dieser Begriffe (ge-
11
Die »messianische Sendung Christi« ist dann aus Gottes Geist heraus zu
verstehen,
d. h., es gibt auch in diesem Punkt keine neutrale historische
Außenseite
des Messianischen ohne das Göttliche; vgl. J. Moltmann (1989),
Kap. III.
12
Vgl. W. Pannenberg (s. Anm. 2), S. 218 ff.; W. Härle
(1995), S. 316 f.Teil II • Schöpfung und Passion
rade der alttestamentlichen Tradition) sicher weder Prophet noch Priester noch König gewesen ist. Im Bild des Gekreuzigten kehren sich alle diese Muster um. Entscheidend ist - und das wäre das wesentliche »Amt« Jesu Christi, wenn man überhaupt so sagen will -, daß er für die Menschen Gott repräsentiert. Mit dem Wort »repräsentiert« sollen summarisch die verschiedenen und (in ihren geschichtlich-kulturellen Kontexten jeweils) unterschiedlich komplexen Lehren und Vorstellungswelten von Sühne, Vergebung, Satisfaktion, Mittleramt, Lösegeld, Stellvertretung, Adoption, Jungfrauengeburt, Taufe, Auferweckung, Logos, Gottessohn usw. nur genannt, aber eben damit wirklich in ihrem Inbegriff auch erfaßt sein. Repräsentation meint: So wie Jesus Christus, so ist Gott. - Das ist, im heutigen Problembewußtsein und sachgemäß (semiotisch) als Gleichnis ausgesprochen, der Kern des christlichen Glaubens. Mit Luthers schöneren Worten gesagt:13
»Das Hauptstück und der
Grund des Evangeliums ist, daß du Christum zuvor, ehe du ihn zum Exempel fassest,
aufnehmest und erkennest als eine Gabe und Geschenk,
das dir von Gott geben und dein Eigen sei, also daß, wenn du ihm zustehest oder hörest, daß er etwas tut oder
leidet, daß du nicht zweifelst, er selbst, Christus, mit solchem Tun und
Leiden sei dein. Darauf du dich nicht
weniger mögest verlassen, denn als hättest du es getan, ja als wärest du derselbige Christus. Siehe, das
heißt das Evangelium recht erkennet, das ist die überschwengliche Güte Gottes, die kein Prophet, kein Apostel, kein Engel
hat je können ausreden, kein Herz je
gnugsam bewundern und begreifen, das ist das große Feuer der Liebe
Gottes zu uns; davon wird das Herz und
Gewissen froh und zufrieden, das heißt den christlichen Glauben gepredigt.«
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Sollen die Aporien der Zweinaturenlehre und der damit verwandten Gegensätze antiochenischer und alexandrini-scher Christologien vermieden werden, und soll zugleich die Orientierung am wirklichen Menschen Jesus von Naza-reth erhalten bleiben - und zwar biblisch gerade unter Berücksichtigung dessen, daß es sich im Neuen Testament um Glaubenszeugnisse handelt, narrative Texte, die die Aneignung des Erzählten als Gottesgeschichte voraussetzen -, so bleibt heute allein der eine Weg der Christologie: in der biblischen und kirchlich-theologischen Geschichtlichkeit Jesu Christi die Repräsentation Gottes zu denken.
Die moderne Frage nach dem
»historischen« Jesus ist also einzubinden
in den Gedanken der Inkarnation - verstanden als Repräsentation. Das gelingt der kategonal strukturierten Dreighedngkeit tnnitarischcn Denkens (s. § 4.2),
insofern Gott der Vater und Gott der Heilige Geist den Interpretationsrahmen für die geschichtliche Konkretion und
damit für die einzelnen Züge der
neutestamenthchen Texte darstellen.14
Um dies vom Neuen Testament her zu belegen, sollen im folgenden fünf
charakteristische Merkmale dieser Repräsentationsleistung vorgelegt werden:15
|
14 Vgl. R.C.Nevillc (1991a), S.
128.
15 Diese »exegetische Rekapitulation«
folgt E. Jüngel (1977), S. 483 ff; vgl.
auch R.C.Nevillc (l 991 a), S.Ulff., 146 f.; I.U. Dalferth (1994), Kap. 3.1.-
Zu den historischen Einzelfragen vgl.
|. Becker (1996), bes. Kap. 5-7;
G. Theisscn / A. Merz (1997).
1.
Die besondere Vollmacht und religiöse Sonderstellung Jesu hängt offenbar damit zusammen, daß er in
einzigartiger Weise die
Gottesherrschaft und ihr Kommen mit seiner Person verbunden sieht. Die
Formeln: »Ich aber sage euch« der Bergpredigt
(Mt 5) oder die »Ich-bin«-Worte (Joh 15) zeigen das überdeutlich. Diese
Autorität ist nur verständlich aus der besonderen Relation zu Gott selbst,
dessen schöpferische Kraft in diesen Worten,
jetzt unter bestimmten Lebens- und
Konfliktbedingungen der Geschichte Jesu, zur Darstellung kommt.
2.
Verhalten und Verkündigung
Jesu wirken unmittelbar gemeinschaftsbildend, haben eine »sozietäre
Struktur«.16
Exemplarisch dafür sind
die Begegnung und das Fest mit Levi
(Lk 5,27-32) und Zachäus (Lk 19,1-10). Die Konkretion der schöpferischen Kraft zeigt sich in der Erneuerung der Lebenszusammenhänge.
3.
Diese Gemeinschaft ist
Gottesgemeinschaft - und als solche
Vergebung und Versöhnung, exemplarisch in den Gleichnissen vom Erbarmen (Lkl5). Es ist der Geist der Liebe (vgl. § 6.2 (5); § 11), der sich im Umgang und
in den Lebensformen Jesu durchsetzt.
4.
Daß diese
Versöhnungsgemeinschaft anstößig wirkte, ist ebenso deutlich wie die
Tatsache, daß diese Anstößigkeit offenbar
gerade theologische Gründe hat: In dieser Niedrigkeit und Einfachheit Gott zu repräsentieren, kann besonders den religiösen Erwartungen zuwiderlaufen.
Dafür ist vor allem die spezifisch christliche Konsequenz verantwortlich, Jesus nicht nur als den Botschafter oder
Lehrmeister der Gottesliebe aufzufassen, sondern als diese Liebe in Person. Die Gegenwärtigkeit Gottes kommt damit in die
äußerste menschliche Nähe einer Personalität, die gerade auch
16 E.Jüngel (1977), S. 484; vgl. auch J. Moltmann (1989), S. 132 ff.; W. Pannenberg, Systematische Theologie (1991) II, S. 366 ff.
die Passion einschließt. Dadurch
wird verständlich, wie schon im Neuen Testament ganz unterschiedliche
Modelle des Versöhnungsdenkens (Sühne, Stellvertretung, Hingabe usw.) an dieses exemplarische Leben angeschlossen
werden konnten. Jesus ist der »zwanglos Handelnde«17, er
unterliegt nicht dem Verdrehtsein und
Verzerrtsein der Sünde (s. § 6) und -
im Kontext des Alten Testaments und der paulinischen Theologie gesprochen -
Jesus kommt in handelnder, freier Liebe dem Zwang des Gesetzes zuvor.18
5.
(5) Diese Konsequenz der
Liebe in Person findet ihre höchste Steigerung in der theologischen
Konfliktlage, daß das Handeln der Liebe das Handeln nach dem vorliegenden religiösen Gesetzesverständnis relativiert -
exemplarisch in Mk2,27: »Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat.« Wird diese
Autoritätsverschiebung nachträglich betrachtet, d. h. aus der Perspektive des
christlichen Glaubens nach Ostern, so wird klar, daß die Passion der Liebe als »implizite Chnstologie«1'
bereits in Leben, Handeln und Sterben
Jesu zu erkennen ist. Die Gottesnähe Jesu,
wie sie die spätere Christologie und Trinitätslehre dann zu einer begrifflich expliziten Gestalt
bringen werden, ist der alleinige Grund für das nicht mehr einzuschränkende Vorrecht der Menschlichkeit. Nur aus dem Geist Gottes
heraus kann die religiöse Praxis sich
selbst überzeugend korrigieren, und in dieser Überzeugungskraft erneuert Jesus die Gottesbeziehung.
Daß erst die Passion und Gottverlassenheit den Sieg der Liebe auch über den Tod hervortreiben und als Repräsentation Gottes universalisieren, so daß von da an nichts
17 E.Jüngel (l 977), S. 492.
18 E.Jüngel (1977), S. 492 f. - Zu den in diesem Kontext nötigen und hier
nicht weiter aufgenommenen Fragen des Dialogs zwischen Christentum
und Judentum vgl. D. Sänger (1994).
19
E.Jüngel (1977), S. 493.
Menschliches, und sei es das Niedrigste und Elendeste, Gott fremd sein kann, ist folglich in der historischen Person Jesu schon sichtbar geworden. Daß Jesus »für uns« gestorben ist, ist explizite Christologie der christlichen Gemeinde nach Ostern (artikuliert in den verschiedensten Formen von Bekenntnissen, Christustiteln, Tauf- und Abendmahlsritualen, Sühnevorstellungen, Hymnen, Kosmologien usw.), aber dies alles hat seinen Halt in der Gottesnähc Jcsu, d. h. in der impliziten Christologie seiner Geschichte.
Noch einmal: Erklärungsgründe für den göttlichen Anspruch Jesu gibt es - auf der Basis des Osterglaubens - durchaus, nämlich aufgrund der Gottesnähe und schöpferischen Liebe, wie sie Jesus unter seinen Zeit- und Glaubensbedingungen in äußerster Konsequenz zum Austrag gebracht hat. Dann besteht die Repräsentation Gottes, christologisch verstanden, tatsächlich in der Inkarnation. — Geht dieser Glaube, dieses religiöse Vertrauensverhältnis zu Jesus als Sohn Gottes aber nicht voraus, ist dann in ihm mehr zu sehen als einer, dem ein historisches Ereignis, Passion genannt, widerfuhr?
Die Antwort kann wiederum
nur lauten: In einem derart nur
äußerlichen, bloß historischen Verhältnis, wie es die neuzeitliche
Wissenschaft herauspräpariert hat, sind tatsächlich immer nur Anlässe für religiöses Vertrauen erkennbar, sein
existentieller Vollzug selbst aber bleibt auf dieser Ebene unentschieden, in den Texten und zwischen den Zeilen
wirksam versteckt. In diesem Sinne hat die biblische Geschichte Jesu erzählenden und dann auffordernden Charakter, sie führt mit
sich die Frage der unbedingten Gewißheit (s. § 2.3), impliziert und provoziert
Gottvcrtrauen an den Schöpfer, Versöhner und Erlöser der Welt. So
verstanden, in der trinitarischen Struktur
des Gottesglaubens ausgelegt, sagt
die Geschichte von Jesus Christus nichts als dies: So ist Gott. Das Erste und Letzte ist jetzt hier, und so
schon immer und auch in Zukunft. Darin nämlich summiert sich kosmologisch (s.
§ 5) und anthropologisch (s. § 6) die menschliche Existenzfrage schlechthin,
und allein hineingezogen in diese20 - und wer wäre das nicht - hat
es Sinn, die historische Jesus-Frage eben
nicht nur historisch zu stellen (um sie damit tendenziell theologisch und
religiös verkümmern zu lassen), sondern so, wie sie uns biblisch
entgegenkommt: gezielt auf die Aneignung im
religiösen Glauben. Geschieht dies,
wird die Repräsentation Gottes nicht nur verstanden, sondern m ihrem Geist weitergetragen. Dann ist auch die Frage nach der Realität der Auferstehung
(I Kor 15) beantwortet: Sie ist der
Lebensprozeß des Reiches Gottes und
besteht in der Intensität der »Hoffnungsbilder gegen den Tod« (Ernst Bloch).21
Vgl. R. C. Ncvillc (1991a), S. 150.
20
Vgl. E. Bloch (1967) III, Kap.
52.